Rezension: Ich will nicht nach Österreich.

Jürgen Theobaldy: Zu Bernd Wagners Erzählband. "Ich will nicht nach Österreich" Das Treffen, Aufbau-Verlag 1976. Tagesanzeiger, Zürich, 24. Juli 1987

Der 1948 in Sachsen geborene Schriftsteller Bernd Wagner ist nach der Veröffentlichung von drei Erzählungsbänden, "Das Treffen", "G. in B." und "Reise im Kopf", vor anderthalb Jahren von Ost- nach West-Berlin übergesiedelt. In einem Aufsatz hat er vor kurzem die Ernüchterung unter den Autoren seiner Generation beschrieben, nachdem ein Großteil der älteren in den Westen gegangen war.

Statt auf einer "spektakulären Themenwahl", so Bernd Wagner, bestehen die jüngeren nun auf persönlicher Erfahrung, ihre Texte wollen nicht mehr "nur Widerhall des allgmeinen Diskussionsgegenstandes sein". Bei Bernd Wagner ist dies weniger ein Programm als eine Charakterisierung seiner bisherigen Arbeiten. Im jüngst erschienenen Band "ich will nicht nach Österreich" finden sich auch die Titelerzählungen seiner früheren Prosabände, die das zeigen.


Grabbe in Berlin 
"G. in B." entwirft ein paar Szenen aus Grabbes Leben, hauptsächlich aus seinem kurzen Aufenthalt in Berlin, wo das Rauhbein 1822 auf Heinrich Heine trifft. Wagners Text schließt nicht nur ein Bekenntnis zu jenem Rebellen und Opfer seiner Herkunft ein, er weist auch auf die anderen Außenseiter voraus, die Wagner ins Zentrum seiner Treffen im ostdeutschen Kleineleutemilieu stellt. Die Perspektive ist zunächst die des Jungen, der sich aus der engen familiären Umgebung löst, später die der Unangepassten und Unerfüllten, schließlich die des Fremden überhaupt, des Wanderers durch ein Grenzgebiet, in dem sich jeder ohne Uniform des Fluchtversuchs verdächtig macht.
Die Unruhe unter den scheinbar ruhigen, mit gebremsten Schwung, doch nicht mit schwerer Hand geschriebenen Erzählungen bricht nur einmal an die Oberfläche durch. Die "Reise im Kopf" hat einen vergrabenen Schatz aus Schmuck und Goldzähnen im ehemaligen KZ Heiligenwald zum Ziel, ein desolates Unternehmen zweier Trinker, dessen Scheitern der Ich-Erzähler zuletzt in hastige Halbsätze und Stichworte fasst. Ansonsten schreibt Bernd Wagner unaufdringlich, sparsam im Duktus, ohne mit der Einfachheit seiner Sprache zu kokettieren und ohne abweisende Zwischentöne gegen den arglosen Leser.

Erklärt wird nichts, vermittelt einiges
Die Prosa ohne Schlacken, die den Stil dem Thema unterordnet, wird von etlichen Autoren und Autorinnen in der DDR angestrebt und ist sicher eine Antwort auf den offiziellen Bombast, mit dem die Errungenschaften des Sozialismus mehr beschworen als gefeiert werden. Bernd Wagner sucht dagegen nach der "Formulierung einer eigenen Sprache, die die Korrespondenz mit der Sprache der Macht abgebrochen hat".

Dabei erschließen sich die Eigenheiten seiner Prosa nicht schon nach den ersten Sätzen; euf verblüffende Wendungen stößt man selten, Gags gibt es kaum, billige Effekte gar nicht. Mit Gespür für Verlangsamung und Beschleunigung des Erzähltempos schreibt Wagner seine Geschichten auf. Selbstverständliches teilt er auch als solches mit; sein Blick dringt durch soziologische Klischees hindurch auf ein personal, in dessen Alltag nationalsozialistische Vergangenheit und die Gegenwart der russischen Besatzungsmacht hineinragen. Erklärt wird nichts, vermittelt einiges, aber allein durch die Gestaltung des Stoffs, der Absetzbewegungen aller Protagonisten, ihrer teils zögernden, teils von Bier und Schnaps erleichterten Versuche, in einen sozial oder territorial unbekannten Bereich vorzudringen.


Da verirrt sich ein von Kindern erschreckter angehender Lehrer auf seinem ersten abendlichen gang durch die neue Umgebung. Ein Besucher entzieht sich der Frau eines Dichters, dessen Seinsandacht vor ihren Eindeutigkeiten als senil erscheint. Nach einer Schulfeier sondern sich zwei Beziehungsarme in einer Kuhle mit braunem Buchenlaub ab. Eine Wirtin, in deren Kneipe Filmaufnahmen stattfinden, erkennt ihre private Misere wieder in den zynisch routinierten Anweisungen des Regisseurs: Ein Beitrag zur Widerspiegelungstheorie? Kritik einer Realität, die sich derart widerspiegeln lässt? Literarische Texte aus dem geteilten Deutschalnd scheinen von vornherein wenigstens zwei ganz verschiedene Deutungen herauszufordern...

Österreich, Protokoll eines paranoiden Schubs
So oder so, gemessen an der abschließenden Titelerzählung wirken die kürzeren, in sich gelungenen Texte wie Vorstufen. Beschrieben wird dort eine Fußwanderung durch eine böhmische Teichlandschaft, die den Ich-Erzähler in gefährliches Gelände führt, wo er sich doch nur einmal verlieren wollte "in jenem Gefleck, das sich grün und blau tief nach unten bis zum Kartenrand zieht."

Dort unten beginnt Österreich, und was wie eine umsichtige Reisebeschreibung anhebt, scheint in das Protokoll eines paranoiden Schubs umzukippen, bis dieser Entwicklung die Verhältnisse selbst ihre Angemessenheit bestätigen. Die Schikanen wie zufällig aufkreuzender tschechischer Polizisten und Grenzsoldaten mehren sich, aber auch noch im Aufbegehren des Wanderers schwingt ein Moment von Ordnungsverlangen mit, wenn er das aufgeklappte Sackmesser heimlich dort verstaut, "wo es hingehört: in der rechten Hosentasche."
Eindrücklich, wie der Wanderer aus dem Zustand unausgesprochener Wut, derer er längst überdrüssig scheint, in einfühlsame, dichte Landschaftsbilder findet, bis er doch wieder zurückgeworfen wird auf den Status des Untertanen und handelnd endlich der Rolle des Verfolgten entkommt.

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